Jede*r wird bei der Staatenprüfung in Genf an uns vorbei müssen

Eva-Maria Thoms
Foto: Lingscheid/mittendrin e.V.

Köln (kobinet) „Kommt mit nach Genf“, mit diesem Aufruf hat sich der Verein mittendrin an die Öffentlichkeit gewandt. Eltern behinderter Kinder wollen am 29. und 30. August 2023 vor Ort in Genf anlässlich der zweiten Staatenprüfung Deutschlands zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention aufzeigen, dass Deutschland die Vorgaben dieser Konvention nicht erfüllen. „Wir werden präsent sein und einige Gespräche führen, mit Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, aber auch mit anwesenden Politikerinnen und gern auch mit Medien und mit Vertreter*innen der Regierungsdelegation. Es wird ja jeder an uns vorbeilaufen müssen, der zur Staatenprüfung will“, betonte Eva-Maria Thoms, 1. Vorsitzende der Verein mittendrin, im Interview mit den kobinet-nachrichten zur geplanten Aktion in Genf.

kobinet-nachrichten: Die zweite Staatenprüfung Deutschlands vor dem Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte behinderter Menschen in Sachen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention rückt näher. Dieses Ereignis am 29. und 30. August 2023 will der Verein mittendrin nicht ungenutzt lassen, wie auf Facebook zu lesen ist. Was haben Sie genau in Genf vor?

Eva-Maria Thoms: Wir haben uns mit Eltern aus mehreren anderen Bundesländern in Genf verabredet und wollen dort während der Staatenprüfung vor dem UNO-Gebäude dagegen protestieren, dass Deutschland die inklusive Bildung verschleppt. Inzwischen gibt es auch eine Stellungnahme aus Elternsicht für den UN-Fachausschuss. Wir werden also präsent sein und sicherlich auch einige Gespräche führen, mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, aber auch mit anwesenden Politiker*innen und gern auch mit Medien und mit Vertreter*innen der Regierungsdelegation. Es wird ja jeder an uns vorbeilaufen müssen, der zur Staatenprüfung will.

kobinet-nachrichten: Was muss man tun, um in Genf mit dabei sein zu können?

Eva-Maria Thoms: Das Ganze ist eher eine Graswurzelaktion, das heißt, es gibt keine zentrale Organisation. Jede*r organisiert sich die Reise selbst. Wir treffen uns dann vor Ort in Genf. Die Einzelheiten unseres Auftretens dort besprechen wir seit ein paar Wochen in einer WhatsApp-Gruppe und gelegentlich in Videotreffen. Wir werden ein gemeinsames Transparent haben, ein paar gemeinsame Plakate und vielleicht auch im Vorhinein schon einen kleinen Zeitplan, welche Politiker*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft uns dort besuchen. Alle, die in Genf mitmachen möchten, melden sich einfach auf Social-Media-Posts zur Genf-Aktion oder per Mail an info@mittendrin-koeln.de.

kobinet-nachrichten: Die Staatenanprüfung findet ja hinter verschlossenen Türen statt. Wie wollen Sie vor Ort Einfluss auf den konstruktiven Dialog, wie das ja so schön heißt, und letztendlich auf die Empfehlungen des UN-Ausschusses an Deutschland nehmen?

Eva-Maria Thoms: Einen direkten Einfluss auf die Staatenprüfung haben wir nicht. Niemand von uns wird dort sprechen oder Fragen stellen können. Aber wenn Sie sich den Staatenbericht der Bundesregierung ansehen, dann steht dort zum Thema inklusive Bildung nichts als Ausflüchte. Wie überzeugend werden die Vertreter*innen der Bundesregierung diese Ausflüchte vor dem UN-Fachausschuss vortragen können, wenn draußen vor der Tür die betroffenen Familien zum Teil mit ihren Kindern stehen, weil die inklusive Bildung in Deutschland nicht vorankommt? Unser Ziel ist, Öffentlichkeit herzustellen, vor Ort in Genf und vielleicht können wir auch dazu beitragen, dass die Staatenprüfung in Deutschland selbst öffentlich wahrgenommen wird. Als Deutschland in der ersten Staatenprüfung 2015 eine deutliche Rüge vom UN-Fachausschuss kassiert hat, gerade wegen der Nicht-Umsetzung der inklusiven Bildung, ist das in der deutschen Öffentlichkeit gar nicht angekommen. Das soll dieses Mal anders werden.

kobinet-nachrichten: Was ist Ihnen in Sachen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention für Deutschland besonders wichtig?

Eva-Maria Thoms: Die ganze UN-Behindertenrechtskonvention ist uns wichtig, weil sie für die Gesellschaft und das Leben von Menschen mit Behinderung einen riesigen Fortschritt verspricht. Aber als Eltern haben wir natürlich besonders den Blick auf Kinder und junge Menschen mit Behinderung, und da ist das Thema Schule das zentrale Thema. Wenn man sich nach 14 Jahren Rechtsgültigkeit der UN-BRK die Situation in den meisten Bundesländern ansieht, kann man nicht erkennen, dass auf ein inklusives Schulsystem hingearbeitet würde. Das lässt sich nicht mehr als Anlaufschwierigkeiten erklären. Das ist ein Bruch der Konvention.

kobinet-nachrichten: Wie kann man die Aktion unterstützen?

Eva-Maria Thoms: Teilen Sie unsere Aufrufe für die Aktion in Genf. Verbreiten Sie Ende August unsere Berichte von der Staatenprüfung. Und helfen Sie im Anschluss mit, das Ergebnis der Staatenprüfung hier im Land zum Thema zu machen.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.

Link zu weiteren Infos zur Fahrt nach Genf und zu den Hintergründen dazu von mittendrin e.V.

Quelle: kobinet-nachrichten.org (Link zum Original-Artikel)

Autor: Ottmar Miles-Paul

Deutschland und die UN-BRK

Seit Geltung der UN-BRK in Deutschland 2009 ist viel Zeit vergangen. Was ist seitdem passiert?

Damit beschäftigt sich der Beitrag der Landesarbeitsgemeinschaft Baden-Württemberg „Gemeinsam leben – gemeinsam lernen“ e.V. zum 5.5.,
dem Europäischen Protesttag für die Rechte von Menschen mit Behinderung:

Geknetet von Vorstandsmitglied Kirsten Ehrhardt geht es um die Umsetzung bzw. Nicht-Umsetzung der UN-BRK in Deutschland: Um Staunen, Grübeln, Ignorieren, Täuschen, Abtauchen und Liegenlassen – und um die nächste Staatenprüfung im Sommer dieses Jahres.

Viel Text gibt es in dem kleinen Clip nicht. „Das passt dazu, wie wir die Umsetzung der UN-BRK in Deutschland bewerten,“ meint der Vorstand
der LAG BW GLGL, „sie ist so schlecht und so schleppend, dass uns die Worte fehlen!“

Auf www.lag-bw.de gibt es auch eine Hörfassung und eine Textfassung.

Forschungsbericht: Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen – Unterstützungsbedarfe und Hinweise auf Inklusionshürden

Diese Studie untersucht, wie es Menschen mit einer Beeinträchtigung und ihren Familien geht. Es wurden Eltern befragt, deren Kinder einen besonderen Unterstützungsbedarf haben. Die Ergebnisse zeigen, wie Familien mit einem behinderten Kind zurechtkommen und was ihnen helfen würde.

Der Forschungsbericht wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erstellt und erschien im November 2022.

Download: Forschungsbericht 613 (PDF, 1,52 MB)

Welche Kriterien Behinderte bei einer Triage gefährden – Ärzte sollten nicht allein entscheiden

Abgerufen am 29.01.2022, 16:50 Uhr, Quelle: Schutz von Behinderten bei Triage: Was nach dem Urteil nun passieren muss (medscape.com)

Prof. Dr. Oliver Tolmein, Mitbegründer der Kanzlei „Menschen und Rechte“ in Hamburg, ist Spezialist für Fragen der Inklusion und des Krankenversicherungsrechts. Er unterstützt Mandantinnen und Mandanten, die sich gegen Diskriminierung wehren wollen. Mit ihm sprach Medscape anlässlich der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zur potentiellen Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen bei möglichen Triage-Entscheidungen bei Corona-Patienten.

Vollständiges Interview hier zu lesen: Download (pdf, 772 KB)

vds nimmt Stellung zum Koalitionsvertrag

Abgerufen am 28.12.2021, 14:50 Uhr, Quelle: vds – Verband Sonderpädagogik e.V. (verband-sonderpaedagogik.de)

Stellungnahme des Verbands Sonderpädagogik (vds) zum Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“

Der Verband Sonderpädagogik e.V. (vds) begrüßt ausdrücklich, dass die Kinderrechte in der neuen Legislaturperiode ins Grundgesetz aufgenommen werden sollen und dass sich die Ampel-Koalition für Chancen für Kinder, starke Familien und beste Bildung einsetzen will.

Das ist wirklich positiv! Dafür haben wir uns lange eingesetzt!

In weiten Teilen ist der Koalitionsvertrag aus Sicht des vds jedoch nicht der angekündigte Fortschritt.
Er bleibt im Bereich Bildung weit hinter erwarteten und erwartbaren Aussagen zurück.

Unter der Überschrift Inklusion findet sich kein Bekenntnis zur inklusiven Bildung!

Es fehlen aussagekräftige Positionen zu

  1. Barrierefreiheit in Verbindung mit inklusiver Bildung und inklusivem Schulbau
  2. Ganztag und Inklusion
  3. Schulsport und Inklusion
  4. Digitales Lernen, digitale Lehr- und Lernmittel und inklusive Bildung (die Gerätewartung hingegen hat es bis in den Koalitionsvertrag geschafft)
  5. Qualitätsoffensive Lehrerbildung und Inklusion (kein Wort zum extremen Lehrkräftemangel im Bereich Sonderpädagogik, Aussagen hinsichtlich des Berufsschullehramts haben es durchaus in den Koalitionsvertrag geschafft).

Die Koalition kündigt einen Bildungsgipfel unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft an.
Der Verband Sonderpädagogik e.V. wird sie beim Wort nehmen und Nachbesserungen im Sinne einer über alle Bundesländer vergleichbaren inklusiven Bildung einfordern! Bisher ist das Bekenntnis zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention eindeutig zu wenig ambitioniert, um Fortschritt zu wagen. Die Lehren aus der Corona-Pandemie müssen in eine langfristige, inklusive und effektive gemeinsame Strategie in der Bildungs- und Sozialpolitik übertragen werden.

Wer Fortschritt wagen will, der muss auch die notwendige Grundgesetzänderung zur Abschaffung des Kooperationsverbots endlich aktiv voranbringen und nicht nur sagen: „Soweit erforderlich, bieten wir Gespräche über eine Grundgesetzänderung an.“

Der vds wird sich einmischen und ein eindeutiges Bekenntnis zur inklusiven Bildung und zu angemessenen Vorkehrungen zur Bildungsteilhabe für alle Schülerinnen und Schüler einfordern!
Selbstverständlich steht der Verband Sonderpädagogik e. V. wie immer mit seiner Expertise beratend und begleitend zur Verfügung.

Quelle: vds – Verband Sonderpädagogik e.V. (verband-sonderpaedagogik.de)

Wie eine Inklusionswende gelingt!

Abgerufen am 28.12.2021, 14:40 Uhr, Quelle: #Barrierefreiheitsrecht (barrierenbrechen.de)

Ein Angebot an die neue Bundesregierung.

Wir Menschen mit und ohne Behinderungen in führenden Sozialunternehmen Deutschlands wollen konkrete Wege aufzeigen, wie „die Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderung weiter ausgebaut werden kann.“ Wir wollen Innovationen in Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft schaffen, einen Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit leisten und die Potenziale von Menschen mit Behinderungen einbringen. Menschen mit Behinderungen umfassen 10 % der Gesamtbevölkerung. Gemeinsam mit allen wollen wir neben der Klima- eine Inklusionswende voranbringen. Unser Angebot:

1) Berufliche Bildung als Schlüssel für einen inklusiven Arbeitsmarkt

Mit einer fundierten beruflichen Bildung gelingt der Start in ein selbstbestimmtes Leben, die eigene Karriere und die Bewältigung des Wandels auf dem Arbeitsmarkt.

Wir müssen gemeinsam mehr Zugangschancen zum allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen aus den Werkstätten schaffen, indem deutschlandweitspezifische Aus-, Fort- und Weiterbildungsgänge (Art. 24 BRK) für deren Einsatz in der Wirtschaft entstehen.

2) Gute Arbeit – Gute Existenz

In Deutschland war selbst die stärkste wirtschaftliche Konjunktur zu schwach, um Menschen mit Behinderungen gerecht zu behandeln. Sie sind viel häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen – vor allem Frauen. Absurderweise herrscht zugleich ein Fachkräftemangel.

Wir müssen für die rd. 8 Mio. Menschen mit Behinderungen und Unternehmen eine bundesweite Arbeitsmarkt-Plattform (Art. 27 BRK) schaffen und zusammenführen, was zusammengehört: Fachkräftebedarf, Fachkräften mit Behinderungen und Unterstützungsangebote.

3) Innovationen durch Forschung & Anwendung

Produktentwicklungen, innovative Dienstleistungen und Talente bleiben unentdeckt, weil Menschen mit Behinderungen nicht als Kundinnen, Kreative oder Fachkräfte entdeckt und anerkannt werden. Heute können Produkte und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen entstehen, die morgen der breiten Mehrheit nützen.

Wir benötigen ein wissenschaftliches Inklusionsinstitut, durch das die Wirtschaft innovative Anwendungen für neue Märkte entwickelt.

4) Beratung & Bewusstseinsbildung durch Expertinnen in eigener Sache

Selbst in engagierten Unternehmen und Organisationen herrscht oft Unsicherheit, was Inklusion bedeutet und welche Potenziale damit verbunden sind. Inklusionsberatung schafft – z. B. bei Digitalisierung, Klimawandel oder Wohnungsbau – Mehrdimensionalität.

Wir wollen das Bewusstsein für die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen schärfen (Art. 8 BRK). Durch u. a. Trainings und eine bundesweite, crossmediale Kampagne kann Inklusion in der breiten Bevölkerung positiv besetzt und von Unternehmen aufgenommen werden. Eine sozialunternehmerische Inklusionsberatung durch Menschen mit Behinderungen hilft, in Politik, Verwaltung und Wirtschaft Inklusionskompetenz zu erzeugen.

Für die Sozialunternehmen für Inklusion: Institut für Inklusive BildungSozialheld*innenmyAbilityEnableMeatempodiscovering handsUn-LabelIrrsinnig Menschlich und Dialog im Dunkeln (DSE) und mit Unterstützung des UnternehmensForums.

Quelle: Wie eine Inklusionswende gelingt! – #Barrierefreiheitsrecht (barrierenbrechen.de)

Geschichte des Werkstättensystems

Abgerufen am 28.12.2021, 14:40 Uhr, Quelle: ak analyse & kritik (akweb.de)

Mit der Industrialisierung und der damit einhergehenden Urbanisierung Mitte des 19. Jahrhunderts entstand in den Städten ein großer Bedarf, Orte für jene Menschen zu schaffen, die in der modernen Welt weniger gut zurechtkamen. Diese Aufgabe fiel Ende des 19. Jahrhunderts der Psychiatrie und der Pädagogik zu. War zunächst noch versucht worden, reine Verweilanstalten für psychisch belastete Menschen oder auch Menschen mit Lernschwierigkeiten zu schaffen, setzten sich bald schon humanere Konzepte durch. Pioniere wie Édouard Séguin entwickelten Bildungs- und Betreuungskonzepte, zunächst vor allem für Kinder, später auch für erwachsene Menschen. In dieser Tradition gründete Friedrich von Bodelschwingh um die Jahrhundertwende die Betelschen Anstalten, die heute als erste Werkstätten gelten. Das Motto »Arbeit statt Almosen« verwies darauf, dass die dort beschäftigten Menschen nicht einfach nur Objekt christlicher Menschenliebe waren, sondern auch einen Beitrag leisten konnten. Dieses Produktivitätsparadigma wurde im Nationalsozialismus zum entscheidenden Kriterium über Leben und Tod: Wer nicht arbeitsfähig war, wurde umgebracht. Insgesamt wurden während der verschiedenen Vernichtungsaktionen mindestens 120.000 Menschen ermordet. In den 1950er Jahren entstanden wieder erste Werkstätten, etwa unter dem Dach der 1958 gegründeten Bundesvereinigung Lebenshilfe. Ziel war es, beschützende Räume zu schaffen, die keinem wirtschaftlichen Druck ausgeliefert waren. Mit Verabschiedung des Bundessozialhilfegesetzes 1961 wurde dann ein flächendeckendes Werkstattsystem in Deutschland etabliert, das dann in den 1970er Jahren konzeptionell weiterentwickelt und festgeschrieben wurde. Demnach sind Werkstätten ein Angebot an Menschen, denen »mehrheitlich und zeitlebens keine Erwerbstätigkeit angeboten wird«. Sie sollen so das Recht von Menschen mit Behinderung auf Arbeit gewährleisten, das Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention festschreibt. Voraussetzung für eine Teilhabe durch Arbeit in einer Werkstätte ist »wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung«. Für Menschen, die dieses Kriterium nicht erfüllen, sind tagesstrukturierende Förderstätten eingerichtet worden. Trotz der Kritik am Werkstättensystem (siehe Interview) und obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention eine Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt fordert, schreibt das Bundesteilhabegesetz, das seit 2016 schrittweise verabschiedet wird, den Bestand der Werkstätten vorerst fort.

Quelle: »Wer einmal in der Werkstatt ist, kommt nie wieder heraus« – ak analyse & kritik (akweb.de)

„Wer einmal in der Werkstatt ist, kommt nie wieder heraus“

Abgerufen am 28.12.2021, 14:40 Uhr, Quelle: ak analyse & kritik (akweb.de)

Anne Gersdorff und Sven Papenbrock über die Ausbeutung Beschäftigter auf dem sogenannten zweiten Arbeitsmarkt und die Kämpfe dagegen

Etwa 312.000 Beschäftigte arbeiten in sogenannten Behindertenwerkstätten. Für diese Personengruppe ist der Übergang zum allgemeinen Arbeitsmarkt nahezu unmöglich. Die Gesellschaft macht es sich mit diesem System sehr leicht, finden Anne Gersdorff und Sven Papenbrock.

Deutschland wird regelmäßig von der UN gerügt, weil es die 2009 in Kraft getretene Behindertenrechtskonvention nicht umsetzt. Inwiefern spielt da das deutsche Werkstättensystem eine Rolle?

Anne Gersdorff: Das deutsche Werkstättensystem wird gerügt, weil es nicht inklusiv ist. Es ist ein in sich geschlossenes System, denn die Übergänge von den Werkstätten in den weiteren Arbeitsmarkt liegen seit Jahrzehnten konstant unter einem Prozent. Das heißt, kaum jemand, der in eine Werkstatt geht, kommt da je wieder raus. Die Beschäftigten sind ihr Leben lang auf Grundsicherung angewiesen, weil sie von den Werkstätten nur ein Taschengeld für ihre Arbeit ausgezahlt bekommen. In der UN-Behindertenrechtskonvention ist festgeschrieben, dass jeder Mensch das Recht hat, seinen Arbeitsplatz frei zu wählen, und dass man mit dem Lohn für seine Arbeit auch den Lebensunterhalt bestreiten können sollte. Darüber hinaus sollte der Arbeitsmarkt barrierefrei zugänglich sein. In Deutschland wird dafür einfach zu wenig getan. Die Werkstättenplätze wurden in den 1990er und 2000er Jahren sogar um 50 Prozent ausgebaut. Die Zahl der Beschäftigten und auch die Zahl der Werkstätten nehmen weiter zu, und ich bin überzeugt, dass es nach der Pandemie auch noch einen weiteren Anstieg geben wird, weil sich Leute vielleicht weniger auf den allgemeinen Arbeitsmarkt trauen und weil ihnen suggeriert wird, dass es mit der Arbeit in der Werkstatt die Perspektive auf ein sicheres Leben gäbe und man dort gut untergebracht sei.

Wie viele Menschen werden in dieser Art von Sonderwelten abgeschirmt?

Anne Gersdorff: Während früher vor allem Menschen mit Lernschwierigkeiten, also mit sogenannten geistigen Behinderungen, in Werkstätten beschäftigt waren oder eben Menschen mit starken körperlichen Behinderungen, nimmt die Personengruppe der psychisch erkrankten Menschen konstant zu. Mittlerweile gibt es spezialisierte Werkstätten für psychisch erkrankte Menschen. Das verweist eigentlich auch darauf, wie der Arbeitsmarkt ist, denn manche Menschen erleiden im Laufe ihres Lebens gerade aufgrund des Arbeitsmarktes eine psychische Erkrankung. Gleichzeitig ist es so, dass das oft hochqualifizierte Leute sind, die so in die Werkstätten kommen und dort für immer bleiben. Als Gesellschaft schätzen wir ein großes Potenzial von Menschen einfach nicht wert. Aktuell sind etwa 312.000 Menschen in Werkstätten tätig, Tendenz steigend. Dabei ist der Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt enorm wichtig, denn in der Gesellschaft, so wie sie jetzt ist, heißt Arbeit auch Teilhabe. Man lernt Leute kennen, man verdient Geld, man kann sich was davon leisten und zum Beispiel mal ins Kino gehen.

Herr Papenbrock, Sie haben Erfahrung mit der Arbeit in Werkstätten? Wie kamen Sie in eine Werkstatt?

Sven Papenbrock: Nach der Schule bin ich in eine Arbeitsagentur gegangen. Der Vermittler hat mich gesehen und sofort gesagt: Für Sie habe ich nur eine einzige Lösung, und das ist die Förderstufe. Ich habe zehn Jahre in Berliner Werkstätten gearbeitet. Ich habe mich da ein bisschen unterfordert gefühlt. Ich konnte auch Tätigkeiten nicht so gut ausführen, zum Beispiel Etiketten von Flaschen abziehen. Das ist kompliziert, weil ich meine Hände nicht so gut bewegen kann. Die Tätigkeit hat überhaupt nicht zu meinen Fähigkeiten gepasst. Ich bin besser in anderen Bereichen, zum Beispiel Kommunikation. Seit zweieinhalb Monaten bin ich jetzt bei den Sozialhelden. Ich übersetze Artikel in Leichte Sprache. Ich habe in der Zeit mehr gelernt als in den zehn Jahren in den Werksstätten und habe auch viel mehr Kontakte zu Menschen.

Was halten Sie insgesamt von dem Werkstättensystem?

Sven Papenbrock: Für die Leute, die etwas fitter sind, müsste man das überarbeiten. Wir als Sozialhelden sagen nicht, dass alle Werkstätten sofort zumachen sollen. Langfristig natürlich schon, weil Werkstätten nicht inklusiv sind. Man müsste da ein anderes System finden. Eigentlich haben die Werkstätten einen Bildungsauftrag, aber den nehmen sie einfach nicht wahr. Tatsächlich ist das System für manche gut, höchstens aber so für vierzig Prozent der Menschen.

Dazu kommt, dass die Menschen in der Werkstatt ausgebeutet werden. Sie machen ihre Arbeit und bekommen am Ende des Monats 100, 150 Euro. Oder sogar gar nichts, wenn sie in einer Fördergruppe sind. Das ist zu wenig. Ein Problem ist auch die Gruppengröße; meistens waren mindestens 35 Leute in einer Abteilung. Es gibt zu wenig Gruppenleiter. Deswegen sind die Gruppen auch so groß. Ich bin mit den Arbeitsverhältnissen in den Werkstätten nicht zufrieden und finde nicht fair, dass man nicht auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet wird.

150 Euro? Wie kann das sein? Es gibt doch einen Mindestlohn.

Anne Gersdorff: Menschen in Behindertenwerkstätten gelten nicht als Arbeitnehmer*innen, sondern als Beschäftigte; das bedeutet, dass sie meist unter 200 Euro im Monat verdienen, also für ein Taschengeld arbeiten. Die Personen, die in den Werkstätten sind, werden vorher als »nicht erwerbsfähig« gelabelt. Und diese Argumentation wird benutzt, um diese fadenscheinige Einteilung als »Nicht-Arbeitnehmer*innen« aufrechtzuerhalten. Dazu kommt, dass mit vermeintlichen Schutzmaßnahmen argumentiert wird: Leute in Werkstätten müssten nicht so hart arbeiten, wird dann gesagt. Oder es gäbe ja besondere Arbeitsbedingungen. Außerdem würden die Menschen in den Werkstätten ohnehin weiterhin Grundsicherung erhalten, egal, wie leistungsstark sie seien. All das führt dazu, dass die Personen nicht dieselben Rechte haben wie Arbeitnehmer*innen, obwohl sie für große Unternehmen Profite erarbeiten oder Dienstleistungen erbringen – und das zum Teil auch acht Stunden am Tag, wie alle anderen Arbeitnehmer*innen auch.

Für welche Unternehmen wird in den Werkstätten gearbeitet?

Anne Gersdorff: Nahezu alle großen Unternehmen der Autoindustrie in Deutschland arbeiten mit Werkstätten zusammen, aber auch beispielsweise die Stahlindustrie. In der Branche werden jedes Jahr acht Milliarden Euro umgesetzt. Das entsprach im Jahr 2019 etwa dem Umsatz der Drogeriekette Rossmann, und das ist ein börsendotiertes Unternehmen. Ich will damit zeigen, dass es durchaus Geld gäbe, die Leute adäquat zu bezahlen zu ordentlichen Rahmenbedingungen. Doch bei den Beschäftigten bleibt nichts hängen. Sie erhalten etwa 1,45 Euro in der Stunde, also unter 200 Euro im Monat bei einer vollen Stelle. Wir haben es mit einem sehr gut abgestimmten System zu tun. Denn die Unternehmen bereichern sich zum einen durch die günstigen Produktionskosten, gleichzeitig müssen die Unternehmen durch die Auslagerung an die Werkstätten die gesetzliche Quote zur Einstellung von Schwerbehinderten nicht erfüllen. Trotzdem können sie eine Ausgleichsabgabe kassieren, weil sie ja die Arbeit von Schwerbehinderten in Anspruch nehmen. Das lohnt sich natürlich.

Die Werkstätten profitieren auch, denn sie erhalten pro beschäftigter Person pro Jahr vom Staat etwa 16.000 Euro Unterstützung. Und der Staat entledigt sich der Frage: Wie beschäftigen wir Menschen mit Behinderungen? Es gibt auch noch einen weiteren Aspekt, der dafür sorgt, dass es seitens des Staates ein Interesse an der Aufrechterhaltung dieses Systems gibt: Staatliche Aufträge können ohne eine EU-weite Ausschreibung vergeben werden. Beispielsweise wurden in Berlin alle Gardinen für Geflüchtetenunterkünfte genäht, weil auf diese Weise das Ausschreibungsverfahren umgangen werden konnte. Das Werkstättensystem ist also sowohl für die Unternehmen als auch für den Staat lukrativ – nur eben für die beschäftigten Menschen mit Behinderungen nicht.

Wie hat sich die Pandemie auf die Werkstättenarbeit ausgewirkt?

Sven Papenbrock: Zu Corona waren alle Werkstätten zu. Wir haben zwar unser Gehalt bekommen, aber keine Gutscheine mehr, auch keine Mahlzeiten. Die Betreuer*innen durften normal weiterarbeiten, aber ich verstehe nicht, warum wir zu Hause bleiben mussten und die Gruppenarbeiter*innen weitermachen durften. Wir sollten die gleichen Rechte haben. Ich verstehe den Unterschied nicht.

Anne Gersdorff: Hinzu kommt, dass in der Pandemie viele Aufträge weggebrochen sind und dadurch weniger Einnahmen generiert wurden. Das hieß für die Beschäftigten, dass zuallererst an ihrem Entgelt gekürzt wurde. Die Betreuer*innen und anderen Arbeitnehmer*innen in den Werkstätten haben alle schön weiter ihr Geld erhalten. Dieses System muss hinterfragt werden. Die Bundesregierung hat dazu eine Expert*innenkommission eingesetzt, die kürzlich ihre erste Zwischenstudie veröffentlicht haben.

Wir stehen ja nun vor einem Regierungswechsel. Was ist davon zu erwarten?

Anne Gersdorff: Die Grünen haben sich in den letzten Jahren dafür eingesetzt, dass sich das Werkstättensystem radikal verändern muss, und auch die FDP ist erstaunlicherweise fortschrittlich unterwegs – wobei man da auch schauen muss, dass die Maßnahmen nicht nur der weiteren Kostenersparnis dienen. Und für die SPD, die historisch ja für Arbeitnehmer*innen stand, müsste das eigentlich auch Kernthema sein. Ich erwarte also, dass es in der neuen Legislaturperiode positive Veränderungen in dem Bereich gibt. Was das konkret bedeutet, muss man natürlich kritisch begleiten. Ich hoffe auch, dass sich bei den Gewerkschaften auch endlich etwas in dieser Hinsicht ändert. Die schweigen sich nämlich zu diesem Thema völlig aus, und das ist einfach super schade. Eine der großen Forderungen ist ja, dass Menschen, die in Werkstätten arbeiten, auch endlich als Arbeitnehmer*innen anerkannt werden, weil es so auch für sie möglich ist, sich gewerkschaftlich zu organisieren, zu streiken, einen Betriebsrat zu gründen und von den Gewerkschaften vertreten zu werden.

Wie wirkt sich aus, dass es keine gewerkschaftliche Organisierung gibt?

Sven Papenbrock: Ich bin mit den Arbeitsverhältnissen in den Werkstätten nicht zufrieden. Ich finde es nicht fair, dass man nicht auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet wird. Die Arbeit in den Werkstätten ist nicht mit der auf dem ersten Arbeitsmarkt vergleichbar. Wir dürfen zum Beispiel keine Betriebsräte bilden, weil wir nicht am ersten Arbeitsmarkt sind. Betriebsräte sind nicht vergleichbar mit Werkstatträten. Ebenso kann das Verhältnis zwischen den Vorgesetzen und den Mitarbeiter*innen angespannt sein, wenn man eine andere Meinung hat als sie. Das gibt es vielleicht auch auf dem ersten Arbeitsmarkt – aber die Werkstattbeschäftigten haben weniger Mitbestimmung. Ich musste eine Werkstatt verlassen, weil ich mich für einen anderen Mitarbeiter eingesetzt habe. Die Vorarbeiterin – meine Chefin – hat mich dann gemobbt. Sie kannte mich und wusste von meinen Phobien − und hat das ausgenutzt. Dann bin ich gegangen.

Anne Gersdorff: Es wurde probiert, analog zum Betriebsrat Strukturen mit Werkstättenräten aufzubauen. Allerdings haben die Werkstättenräte viel weniger Mitspracherechte. Dazu kommt, dass sie immer auf Unterstützung angewiesen sind, die aber nicht unabhängig ist, sondern unter der Werkstattleitung steht. Die befähigt natürlich nicht, eigene Entscheidungen zu treffen, und ist auch nicht empowernd.

Welche Alternativen gibt es zum Werkstättensystem? Wie regeln andere Länder das?

Anne Gersdorff: Ich glaube, der Kapitalismus an sich begünstigt nun mal Strukturen von Benachteiligung. Aber in Skandinavien sind Einrichtungen, wie wir sie in Deutschland kennen, schon etliche Jahre abgeschafft. Konzepte, wie es anders gehen kann, kommen meistens aus den USA: Supported Employment ist das Stichwort. Unterstützte Beschäftigung ist dort viel selbstverständlicher als hier in Deutschland. Ich will aber auch dazu sagen, dass es in Deutschland auch Unternehmen gibt, die Inklusion wollen. Insbesondere kleinere Betriebe beschäftigen manchmal Menschen mit Lernschwierigkeiten. Es gibt bereits einen ganz großen Blumenstrauß an Maßnahmen: Es gibt die unterstützte Beschäftigung, das Budget für Arbeit oder die Arbeitsassistenz. Die Methoden und Instrumente sind da. Nur benutzen wir sie super selten oder super schlecht. Wir haben gleichzeitig ein riesiges Unterstützungssystem, das an den Bedarfen der Unternehmen und an den Bedarfen der Menschen mit Behinderungen vorbei arbeitet. Ich bin wirklich überzeugt, dass Inklusion auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit der entsprechenden Beratung und Unterstützung wirklich funktionieren kann, und das brauchen wir dringend, solange die Gesellschaft Arbeit so stark mit Teilhabe verknüpft.

Quelle: »Wer einmal in der Werkstatt ist, kommt nie wieder heraus« – ak analyse & kritik (akweb.de)

Die frühe Trennung nach Leistung verhindert echte Inklusion in der Schule

Abgerufen am 28.12.2021, 14:30 Uhr, Quelle: Inklusion in der Schule: Warum sich Deutschland damit so schwertut – WELT

Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet Deutschland, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen. Einige Bundesländer setzen dies aber nicht ausreichend um und halten an Förderschulen fest. Experten sehen zwei Wege, um die Nachteile dieses Parallelsystems zu überwinden.

Inklusive Bildung ist ein Menschenrecht – das besagt die UN-Behindertenrechtskonvention, die 2009 in Deutschland ratifiziert wurde. Das Ziel: Schüler mit und ohne Behinderung sollen zusammen lernen, und das Förderschulsystem soll nach und nach abgebaut werden.

Doch während Kinder mit Behinderungen in anderen Staaten wie Kanada oder den skandinavischen Ländern bereits lange erfolgreich im inklusiven Regelschulsystem unterrichtet werden, tun sich Schulen hierzulande mit der inklusiven Beschulung auch zwölf Jahre später oft noch schwer.

Laut einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung sei die schulische Inklusion in Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein weit vorangekommen. In Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz dagegen finde die Umsetzung der Konvention kaum statt.

Regelschulen sind oft schlechter ausgestattet

„Das große strukturelle Problem in Deutschland ist, dass weiterführende Schulen früh nach Leistung trennen. Inklusion orientiert sich gerade nicht an Leistungsdifferenzierung. Die zumeist leistungsschwachen Förderschüler hier zu integrieren, fällt Deutschland sehr schwer“, sagt Mitstudienautor Marcel Helbig.

Fast alle Bundesländer haben ein sogenanntes Elternwahlrecht eingeführt, bei dem Eltern entscheiden können, ob ihre Kinder auf eine inklusive Schwerpunktschule oder eine Förderschule gehen sollen. Häufig allerdings mangelt es an wohnortnahen allgemeinbildenden Schulen, die auch Schüler mit Behinderungen besuchen können. Zudem sind Letztere oftmals schlechter ausgestattet. „Dieses Parallelsystem zwingt Eltern quasi dazu, ihr Kind auf eine Förderschule zu geben“, so Helbig.

Kerstin Merz-Atalik, Professorin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg mit dem Schwerpunkt „Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung/Inklusion“, glaubt, dass die Umsetzung inklusiver Bildung in Deutschland häufig an der Bereitschaft für eine Veränderung des Bildungssystems scheitert.

„Die internationale Forschung zeigt, dass Schülerinnen und Schüler mit Lernbeeinträchtigung im Vergleich zur Beschulung an Sonderschulen, häufig einen größeren Leistungszuwachs in inklusiven Settings haben“, sagt Merz-Atalik. Das liege vor allem daran, dass Kinder auch von ihren Mitschülern lernen. „Wenn wir sogenannte ,Lernschwache‘ in Klassen beschulen, in denen alle Mitschüler ebenfalls Lernschwierigkeiten haben, wirkt sich das negativ auf das Leistungsniveau der Klasse aus. So sind auch unter den erfolgreichen Bildungssystemen immer Länder, wie Finnland, die ein inklusives Gemeinschaftsschulsystem aufweisen“, betont Merz-Atalik.

Abgänger verfolgt das Stigma „Förderschule“

Daneben verlassen mehr als 70 Prozent der Schüler die Förderschule ohne einen berufsqualifizierenden Abschluss. „Selbst wenn Schüler den Abschluss schaffen, haben sie mit dem Stigma ,Förderschule‘ oft keine guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt“, sagt Helbig.

Darüber hinaus würde die schulische Aufteilung die Teilhabechancen von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft auf lange Sicht einschränken. „Wenn zukünftige Arbeitgeber, Kollegen oder Partner auf keine Erfahrungen zurückblicken können, wird das die Vorstellung davon, jemanden mit einer Beeinträchtigung zu beschäftigen, als Kollegin zu haben oder gar eine Beziehung einzugehen, negativ beeinflussen“, betont Merz-Atalik: „Dadurch verhindert ein ,nicht‘-inklusives Bildungssystem auch die Entwicklung hin zu einer inklusiveren Gesellschaft.“

Das bestätigt auch Lisa Reimann, Dozentin für inklusive und vorurteilssensible Pädagogik. Sie selbst lernte von der ersten Klasse bis zum Abitur mit Mitschülern mit und ohne Behinderung.

„Es gab Kinder, die plötzlich laut schrien, im Rollstuhl saßen oder den Lichtschalter ständig an- und ausgeschaltet haben. Wenn man aber von Anfang an in einem solchen Umfeld lernt, steht nicht die Behinderung im Vordergrund, sondern die Tatsache, dass jeder Mensch unterschiedliche Bedürfnisse hat“, sagt Reimann. Genau das sei der Sinn einer Inklusionsklasse: „der Umgang mit Vielfalt und das Erlernen von Rücksichtnahme und Akzeptanz“.

Förderschulen könnten zu inklusiven Schulen werden

Um dies umzusetzen, müsse sich der gesamte Schulalltag in Deutschland verändern. „Es muss die Möglichkeit geben, sich mit Massagebällen zu beruhigen oder mal in die Bibliothek zu gehen, wenn es einem im Klassenraum zu laut wird. Zudem kann es auch an inklusiven Schulen in Ausnahmesituationen temporäre Lerngruppen geben“, so Reimann.

Gelingen könnte dies, indem Förderschulen in inklusive Schulen umgewandelt werden, da dort die benötigte Ausstattung und die Unterrichtsmaterialen bereits vorhanden sind.

„Inklusionsbefürworter fordern nicht den Verbleib von Kindern mit besonderen Bedürfnissen in einem ,Regel‘system, sondern den Ausbau des allgemeinbildenden Schulsystems für die inklusive Bildung“, sagt Merz-Atalik. Dazu gehöre zum Beispiel der Aufbau interdisziplinärer Teams an den Schulen, bestehend aus Sozialarbeitern, Lehrer- und Schülerassistenten sowie für die Inklusion qualifizierten Regel- und Sonderpädagogen. „International ist dies vielerorts schon selbstverständlich“, sagt Merz-Atalik.

Lehrer sind unzureichend ausgebildet

Problematisch ist, dass sich Lehrkräfte häufig nicht ausreichend auf den inklusiven Unterricht vorbereitet fühlen. Eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) unter mehr als 2000 Lehrkräften an allgemeinbildenden Schulen aus dem Jahr 2020 zeigt: Mehr als die Hälfte aller Lehrer halten Inklusion zwar für sinnvoll, kritisieren aber auch, dass sie sich zu wenig vorbereiten könnten und die Klassen für eine erfolgreiche Umsetzung der Inklusion zu groß seien.

Diese Struktur stehe dafür, dass das entsprechende Lehramt nur darauf vorbereite, die jeweils spezifische Schülergruppe zu unterrichten. „International unterscheiden die meisten Länder nur noch in Schulstufen (Primarstufen- oder Sekundarstufenlehrer) und qualifizieren alle Lehrkräfte für die inklusive Bildung. So wurde auch in Österreich der grundständige Lehramtsstudiengang Sonderpädagogik eingestellt“, sagt Merz-Atalik.

„Zudem fördern diese in vielen Bundesländern noch bestehenden ,schultypenspezifischen Lehramtsstudiengänge‘ eine Berufswahlmotivation seitens der Studierenden, die der Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems konträr entgegensteht.“

Quelle: Inklusion in der Schule: Warum sich Deutschland damit so schwertut – WELT

Ampel-Pläne zur Inklusion – „Wir verpflichten auch private Unternehmen“

Abgerufen am 28.12.2021, 14:30 Uhr, Quelle: Tagesspiegel

Die Grünen-Abgeordnete Stephanie Aeffner, die erste Rollstuhlfahrerin im Bundestag, über die Vorhaben der neuen Regierung zur Behindertenpolitik.

„Mehr Fortschritt wagen“ lautet das Motto der neuen Ampel-Regierung. Gilt das auch für die Behindertenpolitik?

„Wir haben uns viel vorgenommen“, sagt die Grünen-Abgeordnete Stephanie Aeffner aus Eppelheim im Rhein-Neckar- Kreis. Die 45-jährige Sozialexpertin saß bei den Koalitionsverhandlungen in der Gruppe „Sozialstaat, Grundsicherung, Rente“ mit am Tisch – und ist die erste Frau im Rollstuhl, die in den Bundestag gewählt wurde. Von 2016 bis zu ihrem Einzug ins Parlament war Aeffner Landes-Behindertenbeauftragte in Baden- Württemberg. „Die Diskussion rund um das Thema Inklusion wird hierzulande derart vergiftet geführt“, beklagt sie. Jede Initiative verkomme zur reinen Kostenfrage. Das sei ein echtes Problem und müsse sich dringend ändern, betont die Politikerin. In vielen europäischen Ländern sind entsprechende Regelungen längst eingeführt worden. „Nirgends ist deshalb die Wirtschaft kollabiert.“

Private Unternehmen müssen aktiv werden

Während die Belange von Menschen mit Behinderung im Wahlkampf höchstens als Randthema vorkamen, widmen die Ampelparteien der Inklusion ganze zwei Seiten (78 bis 80) im Koalitionsvertrag. Dabei werden durchaus ehrgeizige Ziele formuliert: Die SPD, Grüne und FDP wollen Deutschland in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens barrierefrei machen. Das soll durch die Überarbeitung des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen und des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes gelingen. Pressekonferenzen und Veranstaltungen von Bundesministerien sollen künftig für alle verständlich gemacht werden – durch Untertitelungen und Angebote in leichter oder Gebärdensprache. Dafür wird ein Sprachendienst in einem eigenen Bundeskompetenzzentrum „Leichte Sprache/Gebärdensprache“ zuständig sein.

Aber nicht nur im öffentlichen Sektor wird nachjustiert. „Wir verpflichten auch private Unternehmen zur Barrierefreiheit“, sagt Aeffner. Wie sehr Deutschland bei diesem Thema hinterherhinkt, wurde bereits im vergangenen Jahr bei der Umsetzung des European Accessibility Act (EAA) deutlich. Dabei handelt es sich um eine EU-Richtlinie, die den Zugang zu digitalen Alltagsprodukten und Dienstleistungen wie Onlinehandel, visuelle Medien, Geld- und Ticketautomaten durch den Abbau von Barrieren verbessern soll. Für viele Menschen mit Behinderung stellen mobile Bankgeschäfte, dir nur mit Touchscreen funktionieren, oder Online-Hotelbuchungen immer noch unüberwindbare Hürden dar.

Die neue Vorschrift überlässt es den Mitgliedsstaaten, neben der digitalen auch die gebaute Umwelt miteinzubeziehen. Diese Chance habe die alte Regierung vertan. „Es ist ein Irrsinn“, sagt Stephanie Aeffner, „die Bankautomaten müssen in den kommenden Jahren barrierefrei sein, aber der Weg dorthin nicht?“

Der öffentliche Nahverkehr soll komplett barrierefrei sein

Auch im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) sehen die Koalitionäre Handlungsbedarf. Damit die Verkehrsmittel für alle Menschen gut zugänglich sind wollen sie bis 2026 die geltenden Ausnahmemöglichkeiten abschaffen. Bislang müssen Busse und Bahnen nicht vollständig barrierefrei sein. Wie oft Menschen mit Einschränkungen bei der Mobilität an Grenzen stoßen, erfährt Stephanie Aeffner selbst. Beispielsweise sei es für sie sehr schwierig, eine Reise mit der Deutschen Bahn zu organisieren. Sie müsse sich mindestens 24 Stunden zuvor anmelden, und auch dann sei nicht immer sicher, ob sie an den Bahnsteigen in den Zug eingeladen werde. Dauere eine wichtige Sitzung länger, könne sie als Rollstuhlfahrerin nicht einfach spontan einen anderen Zug nehmen.

Bei der Beantragung von Assistenzleistungen verpflichtet sich die neue Regierung dazu, Bürokratie abzubauen. Vorgesehen sind Anpassungen bei der Einkommens- und Vermögensanrechnung für die Assistenz. Die Höhe der Freibeträge wird aber nicht genannt. Vollständig an das Integrationsamt übermittelte Anträge sollen nach sechs Wochen ohne Bescheid als genehmigt gelten.

Zudem wollen die Ampelparteien Lücken in der Versorgung schließen. „Weil auch der Zugang zu ärztlicher Versorgung ein Drama ist, werden wir einen Aktionsplan für inklusives, diverses und barrierefreies Gesundheitswesen entwickeln“, sagt Aeffner. Positiv ist außerdem die Klarstellung, dass bei der intensivpflegerischen Versorgung die freie Wahl des Wohnorts erhalten bleiben muss.

Der Schwerbehindertenausweis wird zum Teilhabeausweis

Ein weiteres Vorhaben: Aus dem Schwerbehindertenausweis wird der digitale Teilhabeausweis. Die Umbenennung dürfte auf Kritik stoßen: An der Lebenswirklichkeit der Menschen mit Behinderung wird sie sicherlich wenig ändern. Andererseits kam die Forderung teilweise von den Betroffenen selbst.

Ausgelöst hat die Debatte eine Schülerin mit Down-Syndrom, die das Wort „Schwerbehindert“ in ihrem Ausweis nicht mochte und es mit „Schwer-in-Ordnung“ überdeckte. Die Idee ging viral, sogar die Versorgungsämter ließen daraufhin spezielle Hüllen anfertigen.

Teilhabe am Berufsleben wird stärker gefördert

Der letzte große Schwerpunkt der Vereinbarung betrifft die Teilhabe am Berufsleben. Dafür sollen Inklusionsunternehmen gestärkt werden – und Arbeitgeber, die keine Schwerbehinderten beschäftigen, tiefer in die Tasche greifen – die Mittel sollen dann in die Förderung der Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt fließen. Auch die Behindertenwerkstätten sollen reformiert werden und verstärkt Angebote anbieten zur Vermittlung von Menschen mit Behinderungen in reguläre Jobs.

Wie wichtig gleiche Chancen bei der Ausbildung und beim Jobeinstieg sind, kann Stephanie Aeffner sehr gut nachvollziehen. Nach dem Abitur studierte sie vier Jahre Medizin, musste aber die Uni aus gesundheitlichen Gründen verlassen: Seit 1999 ist sie wegen einer Muskelerkrankung auf den Rollstuhl angewiesen. Sie wechselte das Studienfach und wurde Sozialarbeiterin. Später arbeitete sie nach einer Zusatzausbildung als Qualitätsmanagerin in einem Krankenhaus, musste aber krankheitsbedingt eine Pause einlegen.

„Immer wieder überlege ich mir, wie ich mit den Brüchen in meinem Lebenslauf umgehe, damit diese nicht als Makel ausgelegt werden“, gibt sie ehrlich zu. Leider gehe die Gesellschaft nicht positiv mit solchen Veränderungen um. Statt ein nicht abgeschlossenes Studium auch als eine Qualifikation zu sehen, stehe im Raum immer die Frage: „Warum hat sie es nicht geschafft?“ Auch beim Aufbau des Studiums sei es deshalb wichtig, dass man den Menschen mehr im Blick hat, sagt sie. Aeffner kann sich gut vorstellen, im sozial-politischen Bereich weiterzuarbeiten. Das wird in der Fraktion in den kommenden Wochen entschieden. (mit epd)

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